Lyrik

Uwe Carow hat die Realität in ihre Schranken gewiesen,
sie gezwungen, vor seiner Sprache zurückzuweichen.

Hanna Haupt aus der Laudatio zum Brandenburgischen Literaturpreis

Ich bin kein Lyriker,

niemand, der sich an den Schreibtisch setzt, um Gedichte zu schreiben. Niemand, der sich vornimmt, Gedichte zu schreiben.
— Wieso dann Lyrik?
— Weil es nicht anders geht.

Lyrik ist die Intensivstation der Sprache.

Lyrik kommt dann ins Spiel, wenn nichts anderes geht.
Wenn sich nur noch ein Schrei oder auch Jauchzer in der Brust bildet, kann Lyrik etwas aushaltbar und mitteilbar machen. So gesehen ist sie manchmal für mich das letzte Mittel. Wenn ich etwas mitansehen muss, etwas erlebe, das ich nicht anders in Worte fassen kann. 

WEGGEKIPPT, AUFGESETZT
An den Schrank
Geschlagen die Sprache
Verloren
An letzte Zeichen

Rotbraun ins Laken
Verschmiert der Bilderstau
Freigegeben zum weg
Spritzen
Mit verrenktem Arm

Abgeprallt mit Hautverlust
Unter wuchtigen Knien
Zielstrebig die Nadel
Gesetzt mit
Hochgeschlagenem Kragen

Die Blöße schamlos
Verdeckt
Halten die Lederfesseln
Auch im brüllenden
Kippen der Tür

Und die Arbeitsweise?

Sie unterscheidet sich für mich gar nicht so sehr vom Bildhauern. Manche Texte sind instantly da, wie z.B. auch »The Walk« im Bruchteil einer Sekunde da war. Die einzelnen Figuren mussten dann nur noch »hingeschrieben« werden.
Manchmal kommen auch Texte zu mir. Wie Skulpturen zu mir kommen. Sie sind also schon irgendwo da und ich kann sie downloaden.

NOCH BEVOR ICH
Stellung halten kann
Im Hundsgemein des Tages
Wird mir der Blendladen
Weggeschossen

Ein Text, den ich geträumt habe und von dem ich aufgewacht bin. Ich musste ihn nur noch aus dem Gedächtnis abschreiben.
Manchmal ist Lyrik aber auch die einzige Möglichkeit, etwas auszudrücken. Wenn ein fließender Text einfach nicht mehr ausreicht, wenn Subjekt, Prädikat, Objekt zu wenig sind, wenn alle temporalen, alle kausalen Konjunktionen falsch klingen. Wenn die Syntax sich erweitert und neue Semantik hervorbringt.

Andere Texte tauchen eher diffuser auf. Haben einen Anlass, machen sich bemerkbar, ich schreibe etwas auf, tagebuchartig, manchmal mehrere Seiten Fließtext. Wenn ich dann merke, dass es nicht stimmt, nicht stimmig ist, es nicht trifft, erst dann schlage ich Worte weg, stelle um, höre dem Rhythmus zu. Ganz wie bei einer Skulptur. Wegschlagen, anmodellieren, zuhören. Das Hinhören ist das Wichtigste, wie bei allen schöpferischen Tätigkeiten. Der Entstehungsprozess ist ein ständiger Dialog zwischen dem Material, dem Text, meiner Vorstellung, meinem Körpergefühl und noch irgendetwas anderem, das die Skulpturen und die Gedichte formt. Ein ständiges Schauen, Abwarten, Formen, Hinhören. Ob ich einen Song schreibe oder ein Kind erziehe: hinhören ist immer das Wichtigste.

Wer mag, findet hier noch ein paar Textbeispiele aus Gedichtzyklen:

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